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Grüß Gott, Genosse!

Die Kirchengemeinde als Genossenschaft. Ein Denkanstoß.

Text: Gerhard Wegner
Illustration: Ronald Dunckert

 

Wenn wir uns in diesem Jahr 2018 daran erinnern, dass die inspirierenden Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen zur Gründung von Genossenschaften aus christlichem Geist entsprangen, dann liegt es nahe, auch einen Blick auf den Zustand des Christentums 200 Jahre nach Raiffeisens Geburtstag zu werfen. Könnte uns sein Einsatz für eine Reform der gesellschaftlichen Organisation, in der einer für alle und alle für einen einstehen, heute nicht auch in der Arbeit an einer notwendigen Reform unserer Kirche begeistern? Schließlich: Die erste Gemeinde in Jerusalem war eine Genossenschaft!

Luther 1523

 Luther hat bekanntlich 1523 eine kurze Schrift veröffentlicht, die vielfach begeistert aufgenommen worden ist und für die Organisationen der Kirche bzw. der Kirchengemeinde neue, in der Zuspitzung durchaus genossenschaftliche, Wege aufwies und das Priestertum aller Gläubigen ausrief. Worum also ging es in der Schrift mit dem Titel „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift“? Die Kernidee ist, dass nicht die Bischöfe, die Stifte, die Klöster oder das Lehramt über die Verkündigung in den Gemeinden urteilen könnten, sondern die ganz normalen einfachen Christen. „Christus … nimmt den Bischöfen, Gelehrten und Konzilen beides, Recht und Macht, die Lehre zu beurteilen und gibt sie jedermann und allen Christen insgemein.“ Es sind die Schafe, wie Luther sehr schön formuliert, die nun urteilen sollen, ob sie Christus’ Stimme hören oder die eines Fremden.

Gegen das, was sich da an falsch inspirierter Kirche findet, wird die Selbstorganisation gesetzt. Ein jeglicher Christ hat Gottes Wort, so Luther ganz klar, und ist von Gott zum Priester gelehrt und gesalbt. Entsprechend hat auch eine jede Gemeinde das Recht, ihren Pfarrer zu wählen, der dann durch den Bischof nur noch bestätigt werden muss. Finde diese Bestätigung nicht statt, so gelte derjenige dennoch als gewählt. Das Priestertum aller Gläubigen ist geboren. Und es ist ganz ohne Zweifel genau diese Idee, die in der Folge immer wieder geradezu revolutionäre Konsequenzen gehabt hat. Denn hier geht es um keine nur innerliche, rein geistliche Berufung, die sich in jeder nur denkbaren Organisationsgestalt verwirklichen ließe, weil sie nicht ganz von dieser Welt sei. Solche Abwege hat man erst später erfunden. Nein: Wenn ein jeder jedem anderen gegenüber ein Priester ist, dann ist das organisatorisch gleichbedeutend mit der Regel von dem einen für alle und dem allen für einen, die auch für Friedrich Wilhelm Raiffeisen bei seinen Genossenschaften grundlegend war. Nimmt man Luthers Sätze (aber) ernst, dann folgt aus ihnen zwingend – und so sagt es Luther ja auch ganz deutlich – nicht nur das Recht auf die Wahl des eigenen Predigers und schon damit eine nicht mehr zu übertreffende Würdigung des einzelnen Christen als solchem, sondern auch die Pflicht, sich entsprechend engagiert und aktiv an der Verkündigung der eigenen Gemeinde zu beteiligen. Teilhabe in ihrer doppelten Bedeutung: als Teilnahme und als Teilgabe.

Christentum als Delegation

 Dass man seine Rechte und Pflichten als Christ durch die Zahlung von Kirchensteuern abgelten und sozusagen delegieren könnte, wäre Luther also nicht in den Sinn gekommen. Christsein reproduziert sich durch ein lebendiges Interesse an der organisierten Gemeinschaft der Christen; durch aktive Teilhabe. Der zentrale Punkt heute ist: Genau hierfür aber fehlen die Anreize. Warum soll sich ein durchschnittlicher Christ für seine Kirchengemeinde bzw. seine Kirche engagieren? Es läuft alles doch gut ohne ihn, und wenn es nicht gut läuft, sind „die da oben“ schuld.

Nun kann man an dieser Stelle sofort einwenden, dass sich ja nun einmal die Verhältnisse in den fünfhundert Jahren seit Luther beträchtlich gewandelt hätten und eine direkte Umsetzung seiner damaligen Ideen heute gar nicht mehr möglich und auch nicht sinnvoll wäre. Die Kirche hat sich in der Folge des landesherrlichen Kirchenregiments als eine klassische Anstalt aufgestellt, in der die Menschen Mitglied sind, ohne dass sie einen sonderlich großen Einfluss darauf hätten, was dort geschehen würde. Natürlich kann man mitmachen, und natürlich wird das gerne gesehen. Was aber die Anreizstrukturen anbetrifft, sich ernsthaft in der Kirche oder gar wegen der Kirche zu engagieren, so sind sie wenig entwickelt.

Eine Anstalt aber ist so ziemlich das genaue Gegenteil einer Genossenschaft, in der die einen für die anderen einstehen. Tatsächlich sind die kirchenleitenden Organe und Personen in der Wahrnehmung der Kirchenmitglieder weit entfernt von ihnen tätig. Bei Wahlen zu den Kirchenvorständen liegt die Wahlbeteiligung in Deutschland in der Regel bei maximal 20 Prozent der Kirchenmitglieder. Die Wahlen zu den landeskirchlichen Synoden erfolgen in der Regel indirekt und sind wenig transparent. Tatsächlich trägt das System aktiv zur Passivierung von mindestens vier Fünfteln der Kirchenmitglieder bei.

Kirchengemeinden als Genossenschaften

Was würde es bedeuten, wenn man stärker auf genossenschaftliche Elemente setzen würde? Eine Genossenschaft zeichnet sich durch einige Kernprinzipien aus. Das wesentliche Ziel ist die Förderung der gemeinsamen Interessen und des Nutzens der Mitglieder. Er ist in der Regel wirtschaftlich zu sehen – im Fall einer Kirchengemeinde wäre er aber darüber hinaus ideell zu bestimmen: Es geht um Teilhabe an der Verwirklichung der „Sache des Christentums“ – oder wie immer das bestimmt werden würde. Kennzeichnend ist dabei das Vertrauen in die eigene Kraft, ausgedrückt durch Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Das bedeutet, dass die „Genossen“ nicht Beiträge oder Steuern, sondern eigenes Kapital zur Verfügung stellen und dafür an allen Entscheidungen beteiligt sind. In der Regel gilt: Ein Mitglied – eine Stimme. Die Kirchengemeinde würde folglich zu einer Art gemeinsamen Geschäftsbetriebs umgebaut (§ 1 Genossenschaftsgesetz).

Es ist deutlich: Solch ein System setzt nicht nur ehrenamtliche und engagierte Mitglieder voraus, die sich in ein letztlich geregeltes Gefüge einpassen, sondern solche, die die Verantwortung für das Ganze übernehmen wollen. Das impliziert einen deutlichen Mentalitätswandel: Wir hier vor Ort sind die Kirche und deswegen entscheiden wir – und nicht „die da oben“! Entsprechend setzen wir auf unsere eigene Kraft – und erst subsidiär auf Unterstützung von anderen, übergeordneten Stellen. Deutlich wird dann: Ohne das Engagement vor Ort geht es nicht! Ohne Engagement verschwindet die Kirchengemeinde. Genau diese Einsicht wird zum stärksten Anreiz, sich zu engagieren und der Genossenschaft beizutreten.

Die Vorteile liegen also auf der Hand: Die Verantwortlichkeit der Kirchenmitglieder für ihre Kirche vor Ort würde beträchtlich wachsen. Es würde sehr deutlich werden: Wenn wir hier nichts tun, tut niemand etwas. Auch der Stolz darauf, hier und jetzt Kirche zu sein, würde wachsen. Sicherlich gäbe es auch dann Mitglieder, die Rechte delegieren würden. Mit den Pflichten wird das dann allerdings schwieriger. Insgesamt wächst das Gefühl für eine Gemeinschaft, die die Kirche vor Ort trägt.

Und die Nachteile? Natürlich gibt es sie auch. Genossenschaften tendieren leicht zum Selbstbezug. Es geht vor allem um die Befriedigung der Interessen der Mitglieder – hier an religiöser und sicherlich auch sozialer und kultureller Kommunikation. Das kann zu einer durchaus gefährlichen Minderwahrnehmung dessen führen, was es an interessanten Entwicklungen im Umfeld der Kirchengemeinde gibt. Keinesfalls sind Genossenschaften von sich aus missionarisch – aber das sind die gegenwärtigen Volkskirchen noch weniger. Nicht selten kommt eine derartige Dynamik allerdings durch neue Genossenschaftsgründungen (oder auch durch Spaltungen alter Genossenschaften) auf. Auf jeden Fall aber erfolgt so etwas „von oben“. Es sind die Mitglieder – oder eben solche, die es werden wollen –, die etwas unternehmen.

Bleibt letztlich die Frage: Was wird in dieser Konstruktion aus den distanzierten, passiven Kirchenmitgliedern? Können Sie in eine Genossenschaft integriert werden – oder werden sie unter diesen Bedingungen forciert die Kirche verlassen? Sicherlich hängt eine Antwort auf diese Frage stark von den konkreten Übergangsregelungen im Falle einer tatsächlichen Umstellung der rechtlichen Konstruktion der Kirchengemeinde auf eine Genossenschaft ab. Die reine Umzeichnung der bisherigen Kirchensteuer auf einen Genossenschaftsanteil dürfte jedoch weniger abschreckend sein und könnte für viele auch durchaus anziehend wirken, da im Unterschied zu vorher nun eine präzise Konkretion und auch eine Teilhabe vorhanden ist. Dennoch könnte es natürlich sein, dass die nun größere Dichte der Kommunikation und tendenziell höhere Erwartungen an die neuen Kirchengenossen auch abstoßend wirken. Generell aber entwickeln Organisationen, die auf ihre eigene Kraft setzen und Selbstverantwortung übernehmen, mehr Attraktivität als die gegenwärtigen Anstalten.

Fazit

 Die Eigenaktivität der Mitglieder ist in der Kirche natürlich erwünscht – ja, sie wird in den letzten Jahren immer deutlicher gefördert. Aber solche Aktivität hat keine konstitutive, tragende Bedeutung. Letztlich sind es leitende und verwaltende Gremien – entfernt von den Interessen der Mitglieder –, die die Reproduktion des Ganzen (nicht mehr) sicherstellen. Der Kirche fehlt im Kern eine Verknüpfung mit den Eigeninteressen ihrer Mitglieder. Sie hat in dieser Hinsicht ein deutliches Anreizproblem: Warum soll man sich für die Kirche einsetzen – es gibt sie doch auch ohne mein Engagement. Bis zu der besonders bedenkenswerten Folgerung, dass religiöse Erziehung eigentlich doch die Sache „der Kirche“ sei – die hätte daran doch ein Interesse; warum soll ich mich darum auch noch kümmern?

Also: Es braucht bessere Strukturen, die die Mitglieder in eine größere Verantwortung für ihre Kirche bringen. Und das geht nur durch die Schaffung tatsächlicher Teilhabe. Also durch Vereine – oder eben durch Genossenschaften. Sie könnten besser als bisher gewährleisten, dass „die“ Kirche tatsächlich „meine“ Kirche ist.

 

Über den Autor

Gerhard Wegner, Jahrgang 1956, ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland und Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg.

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