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Der japanische Raiffeisen

Es war im Todesjahr von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, als in Japan ein Mann geboren wurde, der in seine Fußstapfen trat: Toyohiko Kagawa (1888–1960).

 

Text: Toru Hijikata

 

Japan, im Jahr 1909: Aus verarmten, ländlichen Regionen flüchten immer Menschen in die Städte, deren Einwohnerzahlen rapide steigen. Elendsviertel entstehen, es mangelt an Hygiene, Seuchen brechen aus. Im Sommer erwischt es auch Toyohiko Kagawa, der mit 19 Jahren schwer an Tuberkulose erkrankt. Er hatte zuvor bereits Schicksalsschläge und Not erlebt: Seine Eltern starben, als er vier Jahre alt war. Verwandte, bei denen er aufwuchs, misshandelten ihn mit Prügel, Schelte, Dunkelarrest, Lieblosigkeit und Launen. „Tränen sind eine bittere Speise“, wird Kagawa später über seine Kindheit schreiben.

Auf dem Krankenbett, schwer atmend und dem Tode nah, fasste Kagawa einen Entschluss: „Wenn ich gesund werde, will ich gewiss ins Armenviertel von Kobe ziehen und mich um der Armen willen Gott zum Opfer darbringen.“ Es sei dieser Gedanke gewesen, der ihn zum Leben zurückgebracht habe. „Ich fühlte in mir die Überzeugung, dass Gott mich mit der Pflicht betraut habe, in der Arbeit unter den Armen Jesu Geist zu verwirklichen, und dass ich daher jetzt gar nicht sterben könne.“ Es sei ihm vorgekommen, „als springe ich über den Tod und werfe mich hinein in die Welt der Wunder und Geheimnisse“.

Nachdem Kagawa schon während seiner Schulzeit mit seiner shintoistischen Familientradition gebrochen hatte und evangelischer Christ geworden war, wurde das Jahr 1909 zu einem weiteren Wendepunkt in seinem Leben. Er zog in die Slums seiner Geburtsstadt Kobe, um an der Seite der Schwachen gegen das soziale Übel zu kämpfen, das eben jene Schwachen hervorbrachte. Angetrieben von seinem Glauben widmete er sein Leben dem Ziel, Not und Elend zu überwinden und für Bettler, Mittellose, Arbeiter und Bauern einzustehen. Im Genossenschaftswesen und dessen demokratischen und solidarischen Prinzipien sah er ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. „Genossenschaftswesen ist aktives Christentum“, so Kagawa. Er folgte dem Vorbild von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, dessen System von Kreditgenossenschaften in Japan um die Jahrhundertwende bekannt geworden war – im Zuge von Kampagnen zur Modernisierung Japans nach dem Vorbild Europas und der USA, die von der japanischen Regierung unter dem Motto „Zivilisation und Aufklärung“ propagiert wurde und die politische und soziale Umgestaltung Japans sowie die Öffnung des Landes gegenüber dem Westen einläutete.

Kagawa ging noch einen Schritt weiter: Er wollte einen Staat schaffen, in dem Genossenschaften das gesamte Wirtschaftsleben bestimmen – weltweit: Kagawa wollte internationale Genossenschaften gründen, um Armut zu bekämpfen und auf eine solidarische Gesellschaft hinzuwirken, die auf Brüderlichkeit gründet und Frieden bringt. In rund 300 Werken hat Kagawa seine Ideen beschrieben, für die er hohe Anerkennung erhielt: 1954 bis 1956 sowie 1960 wurde er als Kandidat für den Friedensnobelpreis und zudem 1947 und 1948 für den Literaturnobelpreis nominiert. Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht am 24. April sogar einen eigenen Gedenktag für ihn im Evangelischen Namenskalender vor.

Aufenthalt in den USA

Rund 15 Jahre wirkte Kagawa in den Elendsvierteln der Hafenstadt Kobe. Er gründete Schulen, Krankenhäuser und Kirchen. „Kagawa besuchte die Kranken, er tröstete die Kummerbeladenen, er ernährte die Hungrigen, er gab den Heimatlosen ein Heim“, schreibt sein Biograf Carl Heinz Kurz: „Er wurde den Prostituierten ein älterer Bruder, er besuchte sie, wenn sie krank waren, und versorgte sie mit Medizin.“ Kagawa musste allerdings auch mit ansehen, dass die Armen keinen Ausweg aus ihrer Misere fanden und zur leichten Beute von Pfandleihern und deren Profitsucht wurden. Armut reproduzierte sich, so die nüchterne Bilanz von Kagawa. Aber wie ließ sie sich bekämpfen?

Um sich wissenschaftlich mit der Frage zu beschäftigen, zog Kagawa im Jahr 1914 für einen zweijährigen Aufenthalt an die Princeton University in die USA. Dort erschienen seine „Untersuchungen über die Psyche der Armen“, in denen er das Leben in den Slums beschrieb, das der japanischen Mittelschicht bis dato weitgehend unbekannt war. Kagawa knüpfte Kontakte zu Gewerkschaftlern und intensivierte sie nach seiner Rückkehr in Japan. „Wenn Suzuki der Vater der Arbeiterbewegung in Japan ist, dann ist Kagawa die Mutter – sein Herz, seine Seele, sein Mitgefühl, sein Verständnis für die Arbeiter waren die einer Mutter – einer weisen Mutter“, schreibt Biograf Carl Heinz Kurz.

Zweimal, 1921 und 1922, wurde Kagawa für seine Beteiligung an Streiks inhaftiert. Als ihm die Aktivitäten zu radikal wurden, wandte er sich in den 1920er-Jahren von der Gewerkschaftsbewegung ab – und der Bauernbewegung zu. Er gründete Bauernverbände und Kreditgenossenschaften, um der Armut auf dem Land zu begegnen. Kagawa übte scharfe Kritik an einem rücksichtslosen Gewinnstreben, das allein den jeweils eigenen Vorteil im Blick hat und ihn zu maximieren versucht. Ihm stellte Kagawa das solidarische Prinzip von Genossenschaften entgegen, die auf gegenseitiger Hilfe und Brüderlichkeit gründen sollten. Um seine Ideen zu verbreiten, hielt Kagawa häufig Vorträge in Japan und auch in den USA, wo nach der Weltwirtschaftskrise und der Großen Depression (1929/30) unter der Roosevelt-Regierung ein neuer Kurs der Wirtschaftspolitik eingeleitet werden sollte.

Genossenschaften sind kein Selbstzweck

Während seines halbjährigen Aufenthalts im Winter 1935/36 hielt er mehr als 500 Vorträge in den USA. Sie bildeten die Grundlage für sein wegweisendes Buch „Bruderschaftsökonomie“ (engl. „Brotherhood Economy“). Es erschien 1936 und wurde in 26 Ländern und 18 Sprachen veröffentlicht. Kagawa beschrieb Genossenschaften darin als demokratische Kollektive, die gegenseitige Hilfe und Selbstverwaltungsautonomie garantierten. Eine Genossenschaft, so Kagawa, gehöre nicht ihr selbst, sei also kein Selbstzweck, sondern habe der Menschheit zu dienen – und müsse auf Liebe gegründet sein.

Diese Vision des christlichen Reformers kollidierte allerdings mit einer Realität voller Not und Elend, Krankheit und Gewalt, nicht nur in Japan, sondern weltweit. Als tiefgläubiger Christ stellte Kagawa die Theodizee-Frage: Warum gibt es das Böse überhaupt? Warum lässt Gott es zu? Antworten fand er im Kreuzestod Jesu, durch den das Böse überwunden werde. Kagawa lehnte ein „emotionales Christentum“ ab, das den Glauben zu einer rein innerlichen Angelegenheit des Einzelnen macht. Nein, Jesus sei zur Erlösung der gesamten Menschheit einschließlich der wirtschaftlichen Belange gekreuzigt worden. Wer Christus folgt, dürfe deswegen das säkulare Wirtschaftsleben nicht ignorieren, weil ansonsten ein „religiös halb gelähmter Zustand“ herrsche. Gesellschaft und Geschichte sowie Religion und Wirtschaft voneinander zu trennen, kann nach Kagawas Auffassung nicht richtig sein. Christentum bliebe ohne Gestaltung der Wirtschaftsordnung inkonsequent. Dieser Ansatz prägte seine Theologie und Wirtschaftstheorie, in der Genossenschaften eine Schlüsselfunktion einnahmen.

Kagawa unterteilte die Genossenschaften in sieben Kategorien. Grundlage dafür waren „sieben Prinzipien des wirtschaftlichen Wertes“, die er aus dem Neuen Testament ableitete und als „Grundsatz Jesu über die Wohlfahrtswirtschaft“ bezeichnete:

  1. Versicherungsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Lebenswertes (Kranken- und Lebensversicherung)
  2. Produktionsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Arbeitswertes (Ackerbau- und Fabrikproduktionsgenossenschaft)
  3. Vertriebsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Tauschwertes
  4. Kreditgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Wachstumswertes
  5. Gegenseitige Hilfsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Auswahlwertes (gegenseitige Hilfe für Bildung und Arbeitslosigkeit)
  6. Versorgungsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Rechtswertes (Versorgungsunternehmen für Strom, Gas, Wasser, Verkehr usw.)
  7. Verbrauchsgenossenschaft gemäß dem Prinzip des Zweckwertes.

Kagawa ging davon aus, dass die sieben Genossenschaften ihre Wirkung erst dann voll entfalteten, wenn sie das gesamte Wirtschaftsleben prägten und sich komplementär ergänzten. Er schlug vor, dass auch Kirchen im Rahmen ihrer Wirtschaftsaktivitäten Genossenschaften unterhalten sollten. Kagawa sprach von einer „Bewegung vom Land Gottes”, in der Katholiken und Protestanten mit vereinten Kräften aktiv werden sollten – eine Haltung, die seinerzeit dem „Internationalen Missionsrat“ (IMC) entsprach. Er wurde von protestantischen Konfessionen seit den 1910er-Jahren entwickelt und 1961 in den weltweit agierenden „Ökumenischen Rat der Kirchen“ (ÖRK) integriert.

Pläne für einen genossenschftlichen Staat

Kagawa engagierte sich 1947 bei der Gründung der „Weltföderalisten“ („World Federalist Movement“), die heute beratendem Status beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen haben. Er war Vorsitzender der im Jahr 1952 stattfindenden Asien-Konferenz der Weltföderalisten – nur ein Posten von vielen, um den Weltföderalismus zu stärken und auf Frieden hinzuwirken. Seine Tätigkeiten zielten darauf, einen genossenschaftlich organisierten Staat zu gründen, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich aufgehoben sind. Er sollte nach christlichen Prinzipien aufgebaut und regiert werden.

Bei all seinen Aktivitäten hatte Kagawa insbesondere nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs im Blick, eine weltweite Rahmenordnung für Frieden zu schaffen. „Wenn wir die wirtschaftlichen Aktivitäten so lassen, wie sie sind, kann Frieden in der Welt niemals geschaffen werden“, schreibt Kagawa in einem Zeitungsartikel. Auch die Religion habe ihren Beitrag zu leisten, in dem sie sich auf ihre Grundwerte berufe. „Frieden wird nur kommen, wenn das Bewusstsein der versöhnenden Liebe, die am Kreuz geoffenbart wurde, über die Brüderlichkeit, wie sie in der Genossenschaftsbewegung bewiesen worden ist, in das neue Leben der internationalen Wirtschaft durchdringt.“ Es folgt Kagawas dringlicher Appell, das „globale Wirtschaftssystem“ zu „vergenossenschaftlichen“. Wenn dieses Ziel erreicht sei, „werden wir feststellen, dass wir die einzige solide Grundlage für die Errichtung des Weltfriedens verfestigt haben“.

 

Über den Autor

Toru Hijikata, geb. 1956 in Tokio, ist Professor für Soziologie an der Seigakuin Universität in Saitama, Japan. Zuletzt erschien von ihm in Deutschland: „Das positive Recht als soziales Phänomen“ (Duncker & Humblot, 2013).

Lesen Sie diesen Artikel auf Englisch.

BUCHTIPPS

  • Kurz, Carl Heinz: Toyohiko Kagawa. Der Samurai Christi, Brunnen Verlag 1955.
  • Toyohiko Kagawa: Auflehnung und Opfer. Lebenskampf eines modernen Japaner, Übersetzung,  hrsg. von D. Gundert, Stuttgart 1928.

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