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Kleines Geld, großes Glück

In Ruanda helfen Kreditgenossenschaften dabei, Wege aus der Armut zu finden. Und sie bieten ein Forum zur Versöhnung.

Interview: Thomas Becker
Fotos: Vereinte Evangelische Mission

 

John Wesley Kabango, Jahrgang 1959, ist in Ruanda geboren und hat dort den Völkermord im Jahr 1994 überlebt. Er ist Pfarrer der anglikanischen Kirche und hat an der Atlantic International University auf Hawaii (USA) promoviert. Seit 2012 leitet er die Abteilung Region Afrika der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in Wuppertal.

 

 

Herr Kabango, wie bekannt ist Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Ruanda?

Sehr, gerade in gebildeten Schichten und bei denjenigen, die sich mit Kreditgenossenschaften beschäftigen. Viele Entscheidungsträger aus Regierung und Kirche waren von seinen Gedanken inspiriert, als Mitte der 1990er-Jahre die ersten Kreditgenossenschaften in Ruanda gegründet wurden. Ich war damals für die anglikanische und presbyterianische Kirche mit der Umsetzung in ländlichen Regionen betraut. Nach dem Bürgerkrieg und Völkermord, bei dem 1994 nahezu eine Million Menschen gestorben sind, wollten wir mit Kreditgenossenschaften die Armut im Land bekämpfen. Und da haben wir bei den Vorbereitungen auch nach Deutschland geschaut: auf Raiffeisen, dessen Genossenschaften im 19. Jahrhundert sehr erfolgreich waren. Die VEM hat 1998 dann eine Schulung zu Mikrokrediten ermöglicht, an der ich teilgenommen habe. Anschließend habe ich, unter anderem anhand von Raiffeisens Modell, ein eigenes Kreditwesen auf die Beine gestellt, an dem auch die Ärmsten teilhaben können.

Wie war die Situation in Ruanda nach dem Völkermord?

Wir haben seitens der Kirchen damals Erhebungen in Dörfern durchgeführt, und die Ergebnisse waren erschreckend. Es fehlte an allem: an Bildung, an Kleidung, an Essen und Wohnraum. Ein Problem war auch, dass diejenigen, die kein Geld besaßen, vom Banksystem ausgeschlossen waren. Sie bekamen keine Kredite, nicht einmal Kleinstbeträge, weil sie als völlig mittellose Menschen ohne Einkommen und ohne Hab und Gut keine Garantien vorweisen konnten. Das traf besonders auf Witwen und Waisen zu, von denen es Zigtausende nach dem Krieg in Ruanda gab.

Wie haben die Kirchen damals geholfen, Genossenschaften zu gründen?

Wir wollten Menschen eine langfristige Perspektive bieten, also nicht bloß Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilen, sondern ihnen Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Ganz entscheidend war dabei der Ansatz von Kreditgenossenschaften, die wir gerade in ländlichen Regionen gründen wollten. Alle Bewohnerinnen und Bewohner eines Dorfes sollten eintreten und kleine Beträge einzahlen, um einen Kapitalstock aufzubauen, über den sich auch die Ärmsten Geld leihen konnten. Das ermöglichte Kreditnehmern beispielsweise, eine Kuh zu kaufen, die Milch, aber auch Dung für die Bewirtschaftung von Äckern produzierte. Andere haben Hühner, Ziegen, Kaninchen oder Saatgut angeschafft, wieder andere Fahrräder, Solarzellen oder Handelsgüter, um sie auf Märkten zu verkaufen.

Wie hoch waren die Beiträge für die Genossenschaften?

Jedes Mitglied musste mindestens einen Euro pro Monat in einen Fonds einbezahlen. Wie bei einer Bank auch, war das Geld aber nicht verloren für diejenigen, die einzahlten. Denn die Kreditnehmer mussten das geliehene Geld nach fünf Monaten wieder zurückzuzahlen. Und es wurden auch Zinsen fällig, die allerdings deutlich unter den sonstigen Zinssätzen lagen.

Wurde die Idee angenommen?

Ja. Viele Dorfgemeinschaften gründeten eigene Kreditgenossenschaften, von denen es mittlerweile mehrere Hunderte in Ruanda gibt. Ich selbst bin auch immer noch Mitglied bei der Spar- und Kreditgenossenschaft SACCOs und zahle jeden Monat etwas Geld ein. Im Moment sind es nur 120 Euro. Ich selbst habe noch nie Kredite abgerufen, weiß aber, dass andere Zugriff darauf haben, die darauf angewiesen sind. Deswegen mache ich das. Kreditgenossenschaften haben auch zur Versöhnungsarbeit in Ruanda beigetragen.

Inwiefern?

Nach dem Völkermord haben Opfer und Täter in Städten und Dörfern oft in direkter Nachbarschaft gelebt. Ich habe es am eigenen Leid in meiner Heimatstadt Gitarama im Zentrum von Ruanda erlebt. Der Völkermord war dort verheerend. Vier meiner Brüder wurden umgebracht, zwei von ihnen mit Macheten, wobei ich die Personen kenne, die das getan haben. Nachdem die Täter ihre Haftstrafen abgesessen hatten, kehrten sie in ihre Heimatdörfer zurück.

Wie haben Sie reagiert?

Als Pastor habe ich damals meine Aufgabe darin gesehen, Begegnungen zu ermöglichen und die Versöhnungsarbeit anzustoßen. Der erste Schritt bestand darin, Opfer und Täter zusammenzubringen und Opfern die Gelegenheit zu bieten, ihr Leid, ihre Trauer und auch ihre Wut auszudrücken. In einem zweiten Schritt traten die beschuldigten Personen vor die Gemeinschaft und baten um Vergebung. Gleichzeitig erhielten sie Gelegenheit, sich zu erklären und beispielsweise zu sagen, dass sie zu Taten gedrängt und teilweise erpresst wurden, um Morde zu verüben. Im dritten Schritt lag es an den Opfern zu vergeben. Und dann wiederum kamen die Genossenschaften ins Spiel. Plötzlich zogen alle Dorfbewohner an einem Strang. Wenn man zusammenarbeiten möchte, ist es ja wichtig zu kooperieren. Und wir hatten alle ein gemeinsames Ziel: gegen Armut vorzugehen. Armut kennt keine ethnischen Unterschiede, auch keine Opfer und Täter. Armut macht alle gleich.

Wäre es gerecht gewesen, wenn Täter höhere Mitgliedsbeiträge an die Genossenschaft bezahlen?

Nein, das wollten wir nicht. Es gab ein Völkerrechtstribunal, bei dem Täter verurteilt wurden. Manche wurden vorzeitig aus der Haft entlassen und mussten im Gegenzug einen sozialen Dienst leisten und zum Beispiel Häuser von Witwen und Waisen aufbauen. Wenn sie dann in Genossenschaften eintraten, galten die gleichen Regeln für alle. Das war für den Prozess der Versöhnung immens wichtig. Natürlich ist es ein langer Prozess, der bis heute andauert. Aber ich habe viele Genossenschaften, auch Kooperativen genannt, in Gemeinden besucht, bei denen Opfer und Täter nicht nur als Mitglieder zusammenarbeiten, sondern sich mittlerweile auch als Freunde unterstützen.

Wie haben sich die Kooperativen in Ruanda in den vergangenen 20 Jahren entwickelt?

Es gibt sehr viele positive Beispiele, aber auch Probleme, die ich nicht verschweigen will: In manchen Kooperativen kam es zu Misswirtschaft. Ein anderes Problem besteht darin, das Kreditnehmer teilweise das Geld nicht zurückzahlen, gerade bei Männern kommt das häufiger vor. Insgesamt lässt sich beobachten, dass die erfolgreichsten Kreditgenossenschaften von Frauen geführt werden. Die Rückzahlraten sind hier extrem hoch.

Die positiven Effekte überwiegen also?

Ja, auf jeden Fall. Als ich vor einigen Wochen in Ruanda war, habe ich zwei Jugendliche getroffen, die sich mithilfe eines Kleinstkredits Fahrräder gekauft haben. Die benutzen sie als Taxi und tragen mit dem Geld zum Ernährung ihrer Familien bei. Es lässt sich auch feststellen, dass heute deutlich mehr Jugendliche weiterführende Schulen besuchen als noch vor 20 Jahren. Wenn man Kinder nach den Gründen fragt, wieso sie zur Schule gehen können, bekommt man häufig zu hören, dass es durch Kleinstkredite ermöglicht wurde, mit denen Eltern Stifte und Hefte gekauft haben. Das sind sehr wichtige Erfolge.

Sind Kreditgenossenschaften also die Lösung zur Armutsbekämpfung in Ruanda?

Sie liefern einen wichtigen Beitrag. Was wir insgesamt brauchen, ist eine nachhaltige Strategie, die alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche umfasst. Um Entwicklungen anzustoßen, müssen wir fragen: Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Wie können wir unsere Ziele erreichen? Und wir müssen auch nach Indikatoren fragen, anhand derer wir feststellen können, was wir schon erreicht haben. Die beiden Fahrräder der Jugendlichen sind solche Indikatoren. Deswegen kann ich die Kirchengemeinden und Partnerschaftsgruppen nur ermutigen, sich weiter in der Zusammenarbeit zu engagieren.

Wie kann dieses Engagement mit Blick auf Genossenschaften aussehen?

Die Aus- und Fortbildung ist sehr wichtig. Kreditgenossenschaften verfügen auch in Ruanda teilweise über viel Geld. Da brauchen wir ausgebildete Kaufleute, die ihren Beruf verstehen. Grundlage dafür ist eine gute Bildung, und dafür werden die Grundlagen schon in der Kindheit gelegt. Um das zu erreichen, helfen eben auch Kleinstkredite, die Familien zugute kommen.

INFO

Wer sich für Beteiligungen an Kreditgenossenschaften interessiert, kann sich an die Oikokredit wenden, eine international tätige Genossenschaft, die vom Ökumenischen Rat der Kirche gegründet wurde. Auch der Fair-World-Aktienfonds, den die Bank für Kirche und Diakonie, die GLS Bank und das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt aufgelegt haben, investiert in Unternehmen, die Kleinstkredite an Menschen in Ländern der Entwicklungszusammenarbeit vergeben.

Lesen sie diesen Artikel auf Englisch.

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