Gemeindebrief

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Einer für alle. Alle für einen.

Woher diese Redewendung stammt, wissen längst nicht mehr alle. Geprägt hat sie Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einer der maßgeblichen Begründer des modernen Genossenschaftswesens. Diese wenigen Worte markieren die Grundidee des Genossenschaftswesens. Denn „was einer nicht schafft, das schaffen viele“ – so ein anderer seiner Kerngedanken.

Vor 200 Jahren, am 30. März 1818, wurde Raiffeisen als Sohn des Bürgermeisters in Hamm an der Sieg geboren. Seine Mutter lebte ihm mit ihrem auch in schwierigen Lebenslagen unerschütterlichen Gottvertrauen einen alltagspraktischen Glauben vor. Seine Paten – der eine ein sozial engagierter, evangelischer Ortspfarrer und der andere ein reformpädagogisch geprägter Schulleiter – führten den jungen Mann in die Welt der Bildung und der christlichen Ethik ein. Der Vater selber erkrankte psychisch, verlor sein Amt und durch einen Missgriff in die Armenkasse auch seine Pension. Durch den Absturz aus gutbürgerlichem Milieu erlebte Raiffeisen von Kindesbeinen an, was es bedeutet, von heute auf morgen bettelarm zu sein.

Seine „Kapitalien“ der anderen Art waren sein Wissen, seine praktische Erfahrung, sein Organisationstalent – vor allem und in allem aber auch sein Glaube. Nach Militärzeit und Verwaltungslehre wurde er schon mit 27 selber Bürgermeister und übte dieses Amt fast zwei Jahrzehnte in verschiedenen Westerwaldgemeinden im Unterschied zu seinem Vater mit großem Erfolg aus. Er sah die Verarmung der Kleinbauern, die immer wieder notgedrungen in Kreditfallen von Händlern und Großgrundbesitzern gerieten. Ernteausfälle und Hungerwinter u.a. infolge von vulkanisch verursachten Klimaverschiebungen quälten besonders die Ärmsten der Armen.

Raiffeisen sorgte entgegen den Verwaltungsvorschriften für sofortige Lebensmittelzuteilungen auf Vorschuss. Das riskierte Vertrauen zahlte sich aus. Während Wucherer die Knappheit schamlos ausnutzten, um von der Not der Menschen zu profitieren, organisierte Raiffeisen in der Region die Brotversorgung zu niedrigen Preisen. Sein Ziel blieb nicht nur die akute Nothilfe, sondern er strebte nachhaltige Lösungen an, die sich auch in künftigen Wirtschaftskrisen bewähren sollten.

Eine heute noch sichtbare Maßnahme Raiffeisens war der befestigte Ausbau der Straßenverbindungen vom Westerwald hinunter ins Rheintal nach Neuwied. Über diese „Raiffeisenstrasse“ konnten die Bauern ihre Produkte nun ganzjährig ohne Zwischenhändler selber vermarkten. Hinzu kam der Bau von Schulen für die Landkinder. Bildung war für ihn damals schon die wirksamste Waffe gegen Armut. Gegen die Ausbeutung durch Halsabschneider gründete Raiffeisen Kreditgenossenschaften, in denen sich Kreditgeber und Kreditnehmer gleichberechtigt und gleich verpflichtet zusammenschlossen. Sie vergaben zinsgünstige Darlehen untereinander nach selbst gesetzten Regeln, vor allem aber zu bezahlbaren Zinsen. Später kamen Produktions- und Einkaufs­genossenschaften und Vereinigungen zur gemeinschaftlichen Vermarktung dazu.

Einer für alle, alle für einen – das funktioniert nur, wenn die Gemeinschaft nach klaren Regeln fördert und vom Einzelnen die Einhaltung der Absprachen fordert.

Wir alle kennen neben den Raiffeisenbanken, Landhandelsfirmen oder Baumärkten unter dem Label „Raiffeisen“ auch Winzergenossenschaften und Lebensmittelketten wie EDEKA oder REWE, deren Ursprung mit Raiffeisens Genossenschaftswesen zusammenhängt. Heute entstehen in Stadt und Land neue genossenschaftliche Eigeninitiativen, zum Beispiel bei der Energieversorgung und bei der Entwicklung von Versorgungsdiensten für Menschen mit kleinem Portemonnaie.

Raiffeisen, ein visionärer Ökumeniker

Raiffeisens Glaube war seine Kraftquelle. Seinen Tatendrang zur Gründung zahlloser Genossenschaften konnte auch eine allmähliche Erblindung nicht stoppen. Es ist wohl kein Zufall, dass der fromme Sozialreformer sich im Alter zum Visionär entwickelte. Seine inneren Leitsterne waren Worte der Bibel, etwa Jesu Einladung zum Dienst am Nächsten oder die Geschichten von der gegenseitigen Lebenshilfe in der christlichen Urgemeinde. Sein persönliches Gottvertrauen und der allen Menschen geltende Appell der Nächstenliebe bildeten den geistlichen Wurzelboden seines Engagements. Er arbeitet auch mit Menschen zusammen, die einer anderen Konfession oder Religion angehörten. In seiner großen ökumenischen Offenheit baute er in der genossenschaftlichen Kooperation auch mit katholischen Priestern Brücken mitten im sogenannten „Kulturkampf“, einem politischen Konflikt zwischen dem protestantischen Preußischen Staat und den römisch-katholischen Bistümern.

Im Kampf gegen den Zinswucher, an dem sich christliche wie auch jüdische Geldgeber bereicherten, nahm er ganz selbstverständlich auch jüdische Mitmenschen in Genossenschaften auf. Weder die hiesigen Raiffeisen-Genossenschaften noch die landwirtschaftlichen Kooperativen in Israel („Kibbuzim“) noch Hunderttausende von Kleinbauern-Genossenschaften in Entwicklungsländern sind ohne den kantigen, frommen und kreativen Protestanten aus dem Westerwald denkbar. Solidarisches Wirtschaften im Sinne Raiffeisens hat Millionen von Menschen vor dem Verhungern bewahrt.

Er zählt zu den großen protestantischen Sozialreformern des 19. Jahrhunderts. Seine Ideen gehören seit 2016 zum „immateriellen Weltkulturerbe“ der UNESCO. Kirche und Diakonie dürfen für die vielen positiven Seiten von Raiffeisens Erbe dankbar sein. Diesen Dank teilen sie mit Millionen von Menschen weltweit, die sich mit ihren Genossenschaften lebenswerte wirtschaftliche Alternativen zum Kapitalismus mitten im Kapitalismus aufgebaut haben.

Text: Peter Mörbel

 

 

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Illustration

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Buchtipps:

– Michael Klein: Bankier der Barmherzigkeit“, Neukirchener Verlag, 3. Auflage 2017.

– Michael Klein: Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Christ – Reformer – Visionär, Calwer Verlag 2018.