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Wenn Gewinne nicht alles sind

Über den Beitrag von christlichen Sozialreformern zum Genossenschaftswesen – und wie es sich bis heute entwickelt hat.

Interview: Thomas Becker
Fotos: Markus J. Feger

 

INGRID SCHMALE, Jahrgang 1954, ist Lehr- und Forschungsbeauftragte am Seminar für Genossenschaftswesen der Universität Köln. Zuletzt erschien von ihr als Mitherausgeberin das Buch „Genossenschaft innovativ. Genossenschaften als neue Organisationsform in der Sozialwirtschaft“ (Springer 2017).

TRAUGOTT JÄHNICHEN, Jahrgang 1959, ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung Sozialer Protestantismus.

 

Frau Schmale, waren Sie überrascht, als die Genossenschaftsidee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch im Jahr 2016 zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt wurde?

Ingrid Schmale: Ja, auf jeden Fall. Im Vorfeld hätte ich das nie für möglich gehalten. Aber als ich gesehen habe, wie intensiv die Raiffeisen- und Schulze-Delitzsch-Gesellschaft darauf hingearbeitet haben, habe ich richtig mitgefiebert, als darüber in Addis Abeba entschieden wurde. Wie es der Zufall wollte, haben wir am Tag danach das 90-jährige Bestehen unseres Seminars für Genossenschaftswesen in Köln gefeiert. Da kam die Entscheidung goldrichtig, wir konnten das Ergebnis mit ein wenig Stolz verkünden.

Traugott Jähnichen: Auch ich hatte zunächst nicht mit dem Erfolg gerechnet. Aber man muss natürlich sehen: Das Genossenschaftswesen hat in Deutschland und Europa viele Menschen aus Not und Armut befreit. Heute ist es im weltweiten Kontext gerade in Ländern der Entwicklungszusammenarbeit immens wichtig, also in Afrika, Asien und Südamerika: Kooperativen, denen zumindest implizit Ideen des deutschen Genossenschaftswesens zugrunde liegen, bieten Hilfe zur Selbsthilfe, damit die Ärmsten unter den Armen wirtschaftlich auf die Beine kommen können. Die dortigen Herausforderungen erinnern an Missstände in Deutschland Mitte des 19. Jahrhundert, als Raiffeisen seine Genossenschaftsidee entwickelt hat. Seine Gedanken sind aktueller denn je.

Worin liegt das Einzigartige in der historischen Rückschau bei Raiffeisen?

Schmale: Er hat Menschen dazu befähigt, sich selbst zu helfen. Er hat Rahmenbedingungen geschaffen, die notwendig waren, um die missliche Situation auf dem Land im 19. Jahrhundert zu überwinden. Es war das Ende der Feudalzeit, mit der die Bauernbefreiung einherging. Die meisten Bauern mussten ihre Gutsherren entschädigen, um sich aus der Leibeigenschaft freizukaufen. Und sie mussten ihnen Land abkaufen, das sie bewirtschaften wollten.

Jähnichen: Viele Bauern waren deswegen verschuldet. Kamen Missernten hinzu, konnte das den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Um wieder an neues Saatgut oder Geräte zu kommen, mussten sich die Bauern noch weiter verschulden und oft sehr hohe Zinsen bezahlen. Raiffeisen wollte die Menschen aus dieser Zinsknechtschaft befreien, die zum Teil radikaler als die persönliche Herrschaft eines Gutsherrn war. Deswegen war es wichtig, genossenschaftliche Banken und Sparkassen zu gründen, die Bauern relativ günstige Kredite gewährten. So hatten sie etwa nach Missernten die Chance, wieder Saatgut oder Jungtiere zu kaufen und ihre Felder zu bewirtschaften. Kleinen Bauern einen Zugang zum Kapitalmarkt zu sichern, war eine geniale, eine innovative Idee.

Schmale: Und dass Raiffeisen das so systematisch betrieben hat, war der Grund für seinen Erfolg. Ganz einzigartig war er allerdings nicht in seiner Überzeugung, als Christ etwas für die ärmere Bevölkerung zu tun. Die Genossenschaftsidee lag damals in der Luft und hat  europaweit gezündet: In England haben die Rochdaler Pioniere Genossenschaften gegründet, auch in Frankreich schossen sie aus dem Boden. Der protestantische Reformer Viktor Aimé Huber hat die Ideen aus England und Frankreich dann aufgegriffen und als Erster in Deutschland verbreitet. Raiffeisen im Westerwald und Schulze-Delitzsch in Sachsen hatten die organisatorische Kraft und haben solche Ideen umgesetzt.

Jähnichen: Das Genossenschaftswesen gründet auf dem Versuch, Antworten auf die soziale Frage zu finden. Ausgehend von einer Krise der Industrialisierung und einer Krise der sozialen Sicherungssysteme kam es im 19. Jahrhundert ja insgesamt zu einem tiefen gesellschaftlichen Umbruch. Und da wurden viele christlich-bürgerliche Sozialreformer aus ihrem Verantwortungsgefühl heraus aktiv. Zu nennen sind etwa Johann Hinrich Wichern und Theodor Fliedner, die Not durch soziale Hilfen zu lindern versuchten. Beide verfolgten einen klassisch-karitativen Ansatz der Sozialhilfe. Reformer wie Raiffeisen, Huber und Schulze-Delitzsch boten Hilfe zur Selbsthilfe. Sie gingen davon aus, dass Betroffene nur einen Anstoß benötigen, um sich selbst zu organisieren und in solidarischer Weise zu wirtschaften. Den Kooperationsgedanken zu vertiefen und Menschen zu solidarischer Zusammenarbeit anzuleiten, damit sie ihre Interessen gemeinschaftlich vertreten, bildet den Kern der Genossenschaftsidee.

Raiffeisen und Schulze-Delitzsch vertraten allerdings unterschiedliche Ansätze. Wodurch sind sie gekennzeichnet?

„Der Einzelne war für Raiffeisen immer ein Teil der Gemeinschaft“,  sagt Traugott Jähnichen

Jähnichen: Schulze-Delitzsch hat Genossenschaften eher instrumentell verstanden – in dem Sinn, dass es nur vernünftig ist, wenn sich Menschen zusammenschließen und Vorteile aus Kooperationen ziehen. Dabei steht für ihn der Einzelne im Mittelpunkt, dessen Interesse wirtschaftlich gefördert werden soll. Raiffeisen dagegen dachte traditioneller von der Dorfgemeinschaft her. Der Einzelne war für ihn stets ein Teil der Gemeinschaft. Dahinter stand eine Art von Leib-Christi-Vorstellung: Der Leib Christi bildete für Raiffeisen das Gemeinsame, das Übergeordnete. Genossenschaften sollten dazu dienen, dies zu stabilisieren und zu stärken. Das ist Raiffeisens Grundidee. Da hat er in einer traditionellen christlichen Weise stark gemeinschaftsbezogen gedacht. Aber auch der Ansatz von Schulze-Delitzsch hat einen christlichen Hintergrund. Er war eher ein liberaler Denker mit Wurzeln in der lutherischen Tradition.

Schmale: Raiffeisen hat im Vergleich zu Schulze-Delitzsch sehr stark das Allmende-Prinzip betont, nach dem das genossenschaftliche Eigentum nicht dem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft gehört. Er sah bei den Genossenschaften die Einrichtung von Stiftungsfonds vor, in die genossenschaftliche Gewinne fließen sollten. Diese Gewinne sollten aber der lokalen Gemeinschaft zugute kommen, insbesondere den Armen und Schwachen. Zudem sollten Gewinne über den Stiftungsfonds im Genossenschaftswesen verbleiben, um das Eigenkapital der Bank zu erhöhen. Raiffeisen hat keine Gewinnausschüttung an Mitglieder vorgesehen, sie bekamen also keine Dividende und wurden auch nicht anderweitig am Gewinn beteiligt. Schulze-Delitzsch sah das ganz anders: Mitglieder einer Genossenschaft sollten über Ausschüttungen an den Gewinnen beteiligt werden. Die Auseinandersetzung um diese Frage bildete eine Facette des sogenannten Systemstreits zwischen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch im 19. Jahrhundert.

Jähnichen: Man muss dazu sagen, dass Raiffeisen auch deswegen das Christlich-Gemeinschaftliche so betonte, weil es seinem sozialen Erfahrungshintergrund im Westerwald entsprach. In Mitteldeutschland, wo Schulze-Delitzsch wirkte, hatte dagegen schon eine gewisse Industrialisierung und auch Säkularisierung eingesetzt. Er wollte alle integrieren, seinen Genossenschaften lag deswegen kein dezidiert christliches Konzept zugrunde. Da war Schulze-Delitzsch nüchterner, moderner, ihm ging es um eine Integrationsfähigkeit möglichst vieler aufgrund wirtschaftlicher Vorteile und Interessen. Dahinter stand die Annahme: Wenn es jedem Einzelnen in der Gesellschaft gut geht, dann geht es auch der Gemeinschaft gut.

Schmale: Ohne diese rationale, aufs Individuum bezogene Ausrichtung, die Schulze-Delitzsch verkörperte, wäre das Genossenschaftswesen auf Dauer wahrscheinlich nicht so erfolgreich gewesen. Schulze-Delitzsch hat das 1867 in Preußen in Kraft getretene Genossenschaftsgesetz entworfen und damit die Richtung vorgegeben, die leitend für die weitere Entwicklung von Genossenschaften wurde. Raiffeisen stand insofern auf der „Verliererseite“ mit seinen Vorstellungen zu den Kennzeichen von Genossenschaften. Aber die Mitglieder haben über ihre Satzungen die Kraft, ihre Vorstellungen einer Genossenschaft im Sinne Raiffeisens zu realisieren. So können diese auch vorsehen, dass genossenschaftliche Gewinne nicht ausgeschüttet werden, sondern in die Entwicklung des Gemeinwesens fließen sollten.

Das klingt ja beinahe sozialistisch bei Raiffeisen. Spielen da auch Ideen von Karl Marx hinein, der im gleichen Jahr im nur 200 Kilometer entfernten Trier geboren wurde?

Schmale: Raiffeisen und Marx trennten Welten. Für Raiffeisen gehörten Sozialisten und Kommunisten zur ‚Umsturzpartei‘. Raiffeisen selbst war monarchietreu und stand als Bürgermeister in den Diensten der preußischen Verwaltung, gegen die er sich nie umstürzlerisch aufgelehnt hat – abgesehen von hin und wieder eigensinnigen Auslegungen der Verwaltungsvorschriften im Sinne der Armen und Schwachen. Der Staat war für ihn eine Art gottgegebene Ordnung, die es mit Hilfe von Reformen zu bewahren galt. Da liegt es auf der Hand, dass er in Sozialisten und Kommunisten eine Gefahr für den Staat sah.

Jähnichen: Man muss aber auch sehen: Es gab in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein allgemeines Unbehagen gegen den liberal-individualistischen Kapitalismus. Dieses  Unbehagen speiste sich neben sozialistisch-kommunistischen Idealen auch aus konservativ-christlichen und radikal-liberalen Motiven. Da gab es um 1850 einen Gärungsprozess. Genossenschaftliche Impulse lassen sich teilweise als sozialistisch bezeichnen. Aber es war ein anderer Sozialismus, als wir ihn heute verstehen, ohne die politische und revolutionäre Perspektive. Raiffeisens Augenmerk richtete sich vornehmlich gegen Kredit- und Kapitalgeber, die Wucherzinsen verlangten. Das waren für ihn die Bösewichte, die Bauern in Not und Elend brachten. Sie sah er als Ausdruck eines Kapitalismus, den er in seinen Schriften kritisiert hat.

Wenn wir auf die Gegenwart schauen: Was ist aus Raiffeisens Idealen geworden – beispielsweise im genossenschaftlichen Kredit- und Bankensektor?

Schmale: Das ist aktuell der größte genossenschaftliche Sektor in Deutschland, mit 17 Millionen Mitgliedern. Lange Zeit schien es so, als wären genossenschaftliche Banken auf dem Weg, sich von ihren Ursprüngen zu entfernen. Seit der Finanzkrise 2007/08 und dem Internationalen Jahr der Genossenschaften, das die Vereinten Nationen 2012 ausgerufen haben, hat meines Erachtens aber ein Umdenken eingesetzt. Viele Vorstände betonen seitdem wieder ihre Genossenschaftlichkeit und erinnern sich an ihre ideellen Wurzeln.

Jähnichen: Vor der Finanzkrise bestand ein hoher Anpassungsdruck an Renditeversprechungen anderer Banken, wobei Genossenschaftsbanken nicht deren radikale Risiken eingegangen sind. Sie waren eher ein stabilisierendes Element in der Kreditwirtschaft. Als problematisch sehe ich aktuell, dass viele Filialen vor Ort geschlossen werden. Den Rückzug aus der Fläche empfinden Mitglieder gerade auf dem Land als Widerspruch zur Genossenschaftsidee.

Schmale: In manchen Dörfern ist die Schließung einer Bankfiliale oft das letzte i-Tüpfelchen einer zerfallenden Infrastruktur. Da ist die Versorgung teilweise nicht mehr gewährleistet.

Jähnichen: Da stehen bei Genossenschaften die eigenen Ideale gegen Wirtschaftlichkeit.

Gilt das auch für gewerbliche Genossenschaften?

Schmale: Teilweise, ja. Schauen wir uns die sogenannten integrierten Genossenschaften an, zu denen riesige Handelskonzerne wie Rewe oder Edeka zählen. Ihre Kerne bilden jeweils Genossenschaften, in denen sich selbstständige Einzelhandelskaufleute zusammengeschlossen haben, um im Großen einzukaufen. Damals waren diese Genossenschaften abhängig von ihren Mitgliedern, die die Geschäftspolitik vorgaben. Heute gehen die Impulse bei integrierten Genossenschaften aber mehr von der Geschäftszentrale aus, die nicht unbedingt Rücksichten auf lokale oder regionale Besonderheiten nehmen. Allerdings muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass in den Produktsortimenten, die die Kunden vorfinden, seit einigen Jahren wieder regionale Produkte deutlich sichtbar präsentiert werden.

Der Partizipationsgedanke wird nicht mehr gelebt?

Schmale: Bei Rewe ist es so, dass die Genossenschaften – es sind mehrere – immer noch aktiv sind und Mitglieder auch Stimmrechte haben. Aber sie betreiben bis auf eine Ausnahme nicht mehr das Warengeschäft, was früher ihre Aufgabe war. Das ist jetzt in die Zentrale integriert.

Hält man wegen des guten Rufes an der Organisationsstruktur als Genossenschaft fest?

„Bis vor Kurzem galten Genossenschaften als altmodisch und überholt“, sagt Ingrid Schmale. „Heute weiß man sehr gut um die Vorteile der genossenschaftlichen Organisationsform.“

Schmale: Nein, ich denke, der Ruf spielt eine sehr untergeordnete Rolle, denn bis vor Kurzem galten Genossenschaften eher als altmodisch und überholt. Heute weiß man sehr gut um die Vorteile der genossenschaftlichen Organisationsform. Als Beispiel lässt sich anführen, dass nur dann von einem anderen Konzern übernommen werden kann, wenn alle Mitglieder zustimmen. So können Rewe oder Edeka ohne das Einverständnis der Mitglieder nicht von Kapitalinvestoren übernommen werden, was durchaus vor einigen Jahren mal im Raum stand.

Werfen wir einen Blick auf die Wohnungswirtschaft, in der zahlreiche Genossenschaften aktiv sind. In Großstädten versteigern sie teilweise Wohnungen und Häuser, um möglichst hohe Gewinne für die eigenen Mitglieder zu erzielen. Haben sie sich vom Ideal der Gemeinwohlorientierung verabschiedet?

Jähnichen: Primär die Interessen der eigenen Genossenschaftsmitglieder im Blick zu haben, erinnert an den Ansatz von Schulze-Delitzsch. Deren wirtschaftliche Förderung stand bei ihm ja an erster Stelle. Raiffeisen hätte mit Versteigerungen an Höchstbietende dagegen ein Problem gehabt und Verkäufe eher nach Bedürftigkeit organisiert. Aber wie will man das heute durchhalten? Zu Raiffeisens Zeiten war das Leben und waren Märkte überschaubar und kleinräumig organisiert. Das ist heute anders – und ein Problem für Genossenschaften.

Dominiert die Marktlogik?

Schmale: Teilweise schon, wie viele Beispiele zeigen. Aber es gibt nicht wenige Genossenschaften, die verantwortungsvoll in dem sie umgebenden Umfeld agieren und darüber hinaus auch solche, die sich die Gemeinnützigkeit ins Stammbuch geschrieben haben. Genossenschaften etwa, die eine gute Stadtteil- oder Quartiersarbeit machen, Wohnungen nach Bedürftigkeit vermieten und Gewinne, wenn sie nicht zum Ausbau der Genossenschaft für ihre Mitglieder genutzt werden, in wohltätige oder kulturelle Zwecke investieren. Es gibt auch viele genossenschaftliche Banken, die danach fragen, wo es in der Region hapert und was benötigt wird, um Städte und Dörfer als lebenswert zu erhalten. Die VR-Bank Nordeifel hat beispielsweise viele Genossenschaften bei ihrer Gründung begleitet oder sogar unterstützt: darunter eine Generationen-, eine Familien-, eine Streuobstwiesen- und eine Gaststättengenossenschaft sowie mehrere Schülergenossenschaften und einen Dorfladen.

Wie verbreitet ist das Genossenschaftsprinzip aktuell bei Kirche und Diakonie?

Jähnichen: Weltweit gesehen ist es stark verankert, gerade in der Entwicklungszusammenarbeit. Hier ist zum Beispiel Oikocredit zu nennen, eine vom Ökumenischen Rat der Kirchen gegründete Genossenschaft, die Kleinkredite in Ländern des Südens vergibt. Dort bieten sich Vorteile auch durch eine kooperative Vermarktung von Produkten. In diesem Sektor agiert beispielsweise die Faire Handelsgesellschaft Gepa. Auch das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt unterstützt lokale Kooperativen und vergibt Kleinkredite.

Und in Deutschland?

Jähnichen: Im Finanzsektor ist die Bank für Kirche und Diakonie als eingetragene Genossenschaft aktiv. Daneben gibt es vereinzelte Beispiele, etwa Beteiligungen von Kirchengemeinden an Energiegenossenschaften. Aber insgesamt muss man doch feststellen: Was Überschneidungen von Kirche, Diakonie und Genossenschaft angeht, tut sich aktuell eine Leerstelle auf. Ich denke, das hat auch mit der Entwicklung des Sozialstaats in den 1960er- und vor allem 1970er-Jahren zu tun. Seitdem sind Kirche und Diakonie meist Leistungserbringer des Staates im Bereich der Wohlfahrt. Da geht es mehr um Sozialhilfe und weniger um Hilfe zur Selbsthilfe.

Frau Schmale, wundern Sie sich, dass sich Kirchen und Diakonien aktuell eher wenig im Genossenschaftswesen engagieren?

Schmale: Nein. Ich denke, es liegt auch daran, dass Genossenschaftsverbände jahrzehntelang eher nicht soziale oder kulturelle Zwecksetzungen von neu gegründeten Genossenschaften als wirtschaftlich tragfähig sahen und bei genossenschaftlichen Projekten, die eher der Sozialwirtschaft zuzurechnen sind, andere Rechtsformen favorisierten. Das hat sich erst 2006 geändert, als auf Druck der EU-Gesetzgebung das Genossenschaftsgesetz in Deutschland novelliert wurde. Seitdem gibt es den Passus, dass Genossenschaften neben den wirtschaftlichen Interessen auch die sozialen und kulturellen Belange der Mitglieder fördern können. Deswegen liegen Sozialgenossenschaften im Trend, bei denen sich Anbieter von sozialen Dienstleistungen zusammenschließen, etwa um Pflege und Betreuung von Kindern oder Pflegebedürftigen zu organisieren. Auch bei Werkstätten für Menschen mit Behinderung ließe sich viel genossenschaftlich organisieren. Hier sehe ich Potenziale für Kirche und Diakonie.

Jähnichen: Vielleicht erinnert uns das Raiffeisen-Jubiläum ja daran, die Genossenschaftsidee wieder neu zu entdecken. Angesichts von Finanz- und Wirtschaftskrisen, Wohnungsknappheit in Städten, der Energiewende, Engpässen in der Pflege und dem Abbruch der Infrastruktur auf dem Land entstehen neue gesellschaftliche Bedarfslagen. Da sehe ich viele lokale Anknüpfungspunkte für Kirche und Diakonie.

Lesen Sie diesen Artikel auf Englisch.

Gespräch der beiden Genossenschaftsspezialisten Prof. Traugott Jähnichen und Dr. Ingrid Schmale in der Theologischen Bibliothek der Ruhr-Universität Bochum.

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